Ein frohes neues Jahr wünsche ich allen Leuten da draußen, Menschen wie Vampiren.

Gez. Anna ;-)
 
Auch Vampire fühlen sich von Zeit zu Zeit krank.
Ich befand mich auf dem Weg zur S-Bahn, als mein Magen zu schmerzen begann, machte mir darüber aber keine Sorgen, denn ich hatte eine Stunde zuvor ein ganzes Glas Thüringer Rotwurst ausgelöffelt, davor allerdings zwei Tage lang gar kein Blut zu mir genommen. Ich schob mein Unwohlsein auf diese Abstinenz, gefolgt von einem Überfluss.
Als ich in der S-Bahn saß, wurden die Magenkrämpfe schlimmer. Ich lehnte mein Gesicht gegen die Fensterscheibe, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Die Blässe, die mir ins Gesicht stieg, konnte ich regelrecht spüren. Einatmen, ausatmen, die Gedanken darauf fokussieren, darauf und auf die willkommene Kälte des Fensterglases. Warum hatte ich die Blutwurst nur komplett aufgegessen? Und dann auch noch so schnell? Der Gedanke daran ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Ich musste hier raus!
An der nächsten Station angekommen, setzte ich diesen Gedanken in die Tat um, jedoch nicht allein. Mein Körper, von zwei Tagen des Blutverzichts geschwächt, drohte, mich im Stich zu lassen. Mir wurde schwindelig. Gerade wollte ich mich an einer Haltestange festklammern, als ein Arm meinen Arm unterhakte, ein sicherer Griff mich auffing, aus der S-Bahn beförderte und auf eine Bank setzte.
Dankbar blickte ich den Menschen an, der mir geholfen hatte und nun neben mir saß. Mein Blick traf auf ein Paar brauner Augen und ein besorgtes Lächeln. In gebrochenem Deutsch fragte mich die Frau, ob alles in Ordnung sei. Ich schüttelte den Kopf, entrang mir aber ein schwaches Lächeln. "Das wird schon wieder."
Die Frau machte keine Anstalten, den Platz neben mir zu verlassen, Menschen liefen hektisch an uns vorbei, manche blickten uns unverhohlen an. Wir erlebten einen Augenblick, den ich trotz der Schmerzen als einen Moment der Ruhe und Geborgenheit erlebte, der, wie ein Heizpilz Wärme, die Gewissheit ausstrahlte: Alles wird gut.
Als wieder eine Welle starken Schmerzes aufflutete, atmete ich schwer und krümmte mich leicht, ich konzentrierte meine Gedanken auf meine Atemzüge und meinen Blick auf die weißen Tupfen, die das Blau des Kopftuchs der Frau zierten. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie. Die Wärme ihrer Hand ließ mich kurz zurückzucken. Sie sagte: "Ihre Hand ..."
"Kalt, ich weiß." Das ist normal, aber das sagte ich ihr nicht. Langsam verebbte der Schmerz. Bevor er wieder aufbranden konnte, griff ich nach meinem Handy. Ich blickte die Frau an und sagte: "Vielen Dank."
"Kommen Sie zurecht?"
Ich nickte. "Ich rufe einen Freund an."
So wählte ich Thorstens Nummer, um mich, nachdem mich die Hilfe einer Fremden gerettet hatte, der Hilfe eines Freundes anzuvertrauen.
 
Berlin des Anfangs des 20. Jahrhunderts war, anders als auf den Photographien, schillernd und bunt. Ich fing in einem Kabarettschuppen an, dem Chat Noir, noch bevor dieser, als der Nationalismus auch in den Alltag Einzug hielt, in Schwarzer Kater umbenannt wurde. Machte weiter mit meinem eigenen Kabarettschuppen, dehnte mein Geschäft aus, indem ich zwei weitere Häuser erwarb, und fand ein jähes Ende Anfang der 30er Jahre, als ich mich gezwungen sah, meine Häuser zu schließen und das Geld zwischen meinen Angestellten und mir aufzuteilen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Noch sind wir im lebenslustigen Berlin der Weimarer Republik. Als ich eine Varietétänzerin im Chat Noir war, gönnte ich mir nur wenig Schlaf, denn ich wollte das Leben auskosten bis zum letzten Tropfen. Damals standen mein Vater und ich uns sehr nahe, nicht wie Vater und Tochter, sondern wie Geschwister, die wir vom Alter her auch waren. Wir trafen uns nahezu täglich im Romanischen Café. Wenn ich ihn sehen wollte, brauchte ich nur hinzugehen und fand ihn in diesem Café, wo Künstler in Wartestellung ihrer Entdeckung harrten, wo hübsche Frauen mit Bubikopf und Zigarette im Mundwinkel zwischen ihnen wie Vögel umherschwirrten oder schweigend und abschätzigen Blickes die geheimnisvolle Kühle markierten. Mein Vater besuchte das Café nicht, um entdeckt zu werden, sondern genoss lediglich diese Atmosphäre der Erwartung. Außerdem wurde er es nicht müde, die Leute zu beobachten, die so bunt und verschieden waren wie die einzelnen Zeitungsschnipsel einer Dada-Collage, und die doch zwei Dinge gemeinsam hatten: die Hoffnung auf eine einzige große Chance und die Furcht, sie zu verpassen. Das Romanische Café war ein zweites Wohnzimmer für meinen Vater, die Gäste seine Großfamilie.
Eines Tages jedoch traf ich ihn nicht an, am nächsten Tage ebensowenig. Nach einer Woche begann ich, mich um ihn zu sorgen. Nach einer weiteren Woche gab ich ein Telegramm auf. Ich kannte die Adresse seiner Wohnung und hätte auch selbst hingehen können, aber wir haben eine inoffizielle Abmachung: keine Überraschungsbesuche in der Wohnung und niemals einen anderen Vampir dazu zwingen, sich eine Erklärung aus den Fingern saugen zu müssen. Also gab ich ein Telegramm auf. Und bekam eine Antwort, als ich schon gar nicht mehr mit einer solchen gerechnet hatte: "Sehr gut. Ich bin verliebt. Gez. Konrad."
Es war nicht das erste Mal, dass mein Vater sich verliebte, auch nicht das heftigste Mal, aber es war das erste Mal, dass sie ihn verließ, bevor er es tat.
 
Das Brot, das ich mitgebracht hatte, war zwar nicht mehr warm, aber es duftete. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Knappe 200 Jahre Vampirdasein haben meinen Geschmackssinn nicht abtöten können, der ebenso rudimentär ist wie ein Blinddarm.
"Tut mir leid", sagte Thorsten. "Aber ich habe es nicht geschafft, Blutwurst zu kaufen."
"Das ist nicht schlimm."
"Ich bin völlig erledigt."
Thorsten hatte das Wochenende bei einer Auktion verbracht, nicht als Bietender, sondern als Hilfskraft. Er hatte Auktionsstücke herausgesucht, verpackt, Kunden angelächelt und ihnen Gläser, abgegriffene Münzen, alte Dolche, halbzerfallene Bücher gezeigt und die ganze Zeit über gestanden. Am Tage im Auktionshaus, abends hinter dem Tresen der Bar. Er braucht das Geld, denn sein Auto hat endgültig seinen Geist aufgegeben, schaut sich die Straße nun von unten an. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen, aber auch ich lebe nur so dahin, halte mich mit schlechtbezahlten Jobs über Wasser. Ich bin zu träge und hänge zu sehr der Vergangenheit nach, um den Bissspuren des Zahns der Zeit zu folgen und mir eine einschlagende Geschäftsidee zu überlegen. Große Geschäfte habe ich in den 20er Jahren gemacht.
"Irgend so ein Bild ist für 1700 Euro rausgegangen. An einen telefonischen Bieter, den ich am Ohr hatte", sagte Thorsten. "Einen Bulgaren. Ich musste auf Englisch mit ihm sprechen."
"Der am schlechtesten bezahlte Angestellte musste den besten Kunden betreuen. Unglaublich. Konnten die anderen kein Englisch?"
"Wahrscheinlich nicht gut genug. Das war seltsam. Ich habe richtig mitgefiebert, und als der Bulgare die Auktion gewann, habe ich mich kurzzeitig mindestens so sehr gefreut wie er. Aber, Scheiße nochmal, 1700 hab ich nicht in einem Monat."
"Was zeigte das 1700-Euro-Gemälde denn?"
"Eine nackte Frau."
Ich lächelte. "Präziser geht es wohl nicht?"
Thorsten zuckte mit den Schultern. "Hm ... die hat rumgelegen und nicht in die Kamera geschaut. Ähm, du weißt, was ich meine. Ich glaube, sie hatte sogar die Augen geschlossen. Aber so genau hab ich mir ihre Augen nicht angeguckt."
"1700 Euro nur fürs Anschauen. Da werden Frauen, die nach dem Anschauen noch keine Grenze ziehen, schlechter bezahlt."
 
Das scheint die zutreffendste Beschreibung für mein Lächeln. Nicht Lächeln Ausrufezeichen, Lächeln Fragezeichen oder Lächeln Punkt, Punkt, Punkt. Nein. Nur Lächeln Punkt. Schnörkellos. Und vor allem mit geschlossenen Lippen. Denn ich kann es mir nicht erlauben, Zähne zu zeigen.
Oftmals ist das schwierig. Beim Lachen muss ich die Hand vor den Mund halten. Wenn Thorsten mich zum Lachen bringt, bringt meine 'keusche Hand', wie er sie nennt, wiederum ihn zum Lachen. Auch beim Reden ist Vorsicht geboten, aber das ist einfacher, als man vielleicht vermuten mag. Bei einem Gespräch blicken mir die Leute meist in die Augen, zuweilen auch etwas tiefer, kommt ganz auf meine Garderobe an, aber selten blicken sie auf meinen Mund. Schwieriger wird es, wenn ich etwas erzähle, das mich zum Lächeln bringt. Solche Sachen behalte ich dann lieber für mich.
Die einzige Zeit im Jahr, in der ich unbeachtet lächeln kann, ist die Pfingstzeit, die Zeit des Leipziger Wave Gotik Treffens. Ich habe es zu einer persönlichen Tradition erhoben, jedes Jahr in diese Stadt zu fahren, nur um breit lächelnd die Schattenseite der Straßen entlang zu spazieren. Dann lächle ich all die kunstvoll geschminkten Leute an, die, überwiegend in Schwarz gekleidet, dennoch bunt auf mich wirken, bunt und verschieden und auf eine besondere Weise frei. Ich lächle die Gesichter an, die sich das Lächeln für vier Tage versagen; lächle die Blicke an, die mein Lächeln umschwirren; lächle die Lächelnden an, die sich von meinem Lächeln haben anstecken lassen; lächle, lächle, bis mir der Kiefer schmerzt; lächle, bis ich high bin vom Lächeln.
Begegne ich jemandem, der ebenso breit lächelt und ähnlich spitze, lange Eckzähne entblößt wie ich, komme ich nicht umhin, mich zu fragen: "Trägt hier jemand seine Plastikzähne zur Schau, oder bin ich gerade einem Wesensverwandten begegnet?"
Ich halte inne, wende mich kurz um, begegne einem zu mir zurück geworfenen Blick, ein Moment der Unbestimmtheit vergeht, dann trennen sich unsere Blicke wieder, wir wenden uns ab, und jeder geht seines eigenen Weges.
 
Thorsten und ich frühstücken manchmal gemeinsam, meist bei ihm, ab und zu auswärts, seltener bei mir, denn er findet meine Küche zu klein und meine Auswahl an Utensilien nicht ausreichend. ("Was, du hast nicht mal ein Käsemesser?") Mir ist das nur recht, denn so bin ich selten gezwungen, meine Wohnung thorstenkompatibel herzurichten.
Heute Morgen läutete ich bei ihm, in der Hand eine Tüte mit Brötchen vom Eckbäcker, die noch warm waren.
"Guten Morgen", sagte Thorsten. "Oder wie auch immer man das nennen will."
Er sah so verschlafen aus, wie ich mich fühlte. So geht es uns oft nach einer Schicht in der Bar. Er nahm mir die Tüte ab und deutete auf den Stuhl, auf dem ich gewöhnlich sitze. Keine Minute später brachte er mir eine Tasse heißen Kaffees, um gleich darauf wieder in der Küche zu verschwinden. Ich habe mir abgewöhnt, ihn zu fragen, ob er meine Hilfe benötige, denn seine Antwort war noch nie eine andere als: "Nein, ich mach das schon."
Stattdessen nutze ich nun stets die Zeit seiner Abwesenheit, um meinen Flachmann aus der Handtasche zu ziehen, ihn aufzuschrauben und einen kräftigen Schluck Rinderblut in den Kaffee zu gießen. (Das Blut habe ich mit Natriumcitrat vermengt, um es am Gerinnen zu hindern.)
Nachdem Thorsten den Tisch gedeckt hatte - Brötchen im Brotkorb, Käse, Tomaten, hausschlachtene Wurst, Meerrettich, Marmeladen und, obwohl Teil des Wursttellers, eine eigene Erwähnung wert: Blutwurst - setzte er sich zu mir an den Tisch. Wir stießen mit unseren Kaffeetassen an, dann tranken wir. Thorsten verbrannte sich die Zunge wie so oft. Ich erhob mich und lief zu seinem Schreibtisch, um die Wasserflasche zu holen, die zwischen der Tiffanylampe und dem Laptop stand. Nachdem ich ihm die Flasche gegeben und er einen Schluck daraus genommen hatte, nickte er und sagte: "Danke."
Ich schnitt ein Brötchen auf, belegte eine Seite dick mit Blutwurst und klappte es wieder zusammen. Bevor ich hineinbiss, sagte ich: "Die Lampe passt nicht zu dir."
Er lächelte verschmitzt. "Ich habe sie aber gewonnen."
Das hat er in der Tat. Bei der einzigen Gelegenheit, in der es ihm gelang, eine Partie Halma gegen mich zu gewinnen.